@SeKan
Herrigels suggestiver Schreibstil, der in seinen wolkigen Andeutungen viel Raum für ganz individuelle Projektionen läßt, hat sehr vielen Menschen den Eindruck vermittelt, etwas wesentliches zu verstehen bzw. wiederzuerkennen. Da ist man gar nicht in der schlechtesten Gesellschaft. Siehe zum Beispiel folgenden Text, der Herrigel als eine wesentliche Inspirationsquelle für Henri Cartier Bresson identifiziert (Bresson ist einer der einflußreichsten Photographen der Nachkriegszeit.)
http://www.b4uc.tv/photography-photogra ... say-2.htmlBeachte übrigens , wie der Text Herrigels Kyudounterricht auf 5 Jahre, seinen gesamten Aufenthalt in Japan, ausweitet und seinen Lehrer AWA Kenzo zum Zenmeister stilisiert. Beides ist beweisbar falsch, aber fester Bestandteil der Herrigellegende geworden.
Mehr Hintergrundinformation zu Herrigel findet sich unter
http://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_HerrigelWenn man das, was da in Japan historisch abgelaufen ist, umdrehen und auf Europa übertragen wollte, ist die Situation ganz grob etwa so, wie wenn
(Achtung, Gedankenexperiment!)
die europäische Kampfkünste einschließlich des englischen Bogenschießens zusammen mit verquasten Vorstellungen von christlichem Rittertum die wesentliche Hintergrundideologie des aufkeimenden Nationalsozialismus in den 20er Jahren gewesen wären - was übrigens gar nicht so sehr weit hergeholt ist:
![Bild](http://www.lmg-varel.de/faecher/geschichte/clio/hitlritter.jpg)
Ein Ausländer (sagen wie ein Japaner) lernt in dieser Zeit bei einem esoterischen Sonderling in Europa ein wenig ELB zu schießen, und verbindet das wenige, was er von dessen Tiraden aufschnappt, mit seinen eigenen Wunschvorstellungen von heroischen christlichen Kreuzfahrern. Er schreibt einen Text, in dem er diese Kriegerphantasien zur Unterstützung des Militarismus in Japan verbreitet. Was da angerichtet wurde, siehe z.B.
http://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_NankingNun verbietet nach dem Krieg die amerikanische Besatzungsmacht alle Sportarten, einschließlich des Bogenschießens in Europa. Die traditionellen Fechter und Ringer und Bogenschützen möchten natürlich wieder trainieren und versuchen, ihre Sportarten von der Verbindung mit den Nazis zu reinigen und im vorteilhaftesten, friedlichsten Licht darzustellen.
Unser Japaner sieht sich im ebenfalls besetzten Nachkriegsjapan gezwungen, seinen Text von den nunmehr politisch unkorrrekten kriegerischen Elementen zu säubern und ändert ihn daraufhin zu einer rein esoterischen Darstellung vom Bogenschießen als christlich-mystischer Praxis mit erstaunlichen Schilderungen vom Treffen mit geschlossenen Augen durch die Kraft des Gebets - paradoxerweise wird gleichzeitig behauptet, daß es ums Treffen gar nicht gehe.
Dieses Buch "Christentum in der Kunst des Englischen Langbogens" wird aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt und hier vom Bogensportverband positiv aufgenommen, beweist es doch, daß der ELB eigentlich zu höheren Ehre Gottes dient und gar nicht kriegerisch ist. Über die Rolle des ELB im Hunderjährigen Krieg zu reden, wird tunlichst vermieden, auch wenn der mit den Nazis ja nun nichts zu tun hat...
Dann gräbt jemand noch den Toxophilus aus, findet dort zu Hauf Sätze wie
"And thus I pray God that all fletchers getting their living truly, and all archers using shooting honestly, and all manner of men that favour artillery, may live continually in health and merriness obeying their Prince as they should, and loving God as they ought, to whom all things be all honour and glory for ever. Amen."
Es wird zur allgemein akzeptierten Wahrheit: ELB ist mystischer Gottesdienst. Amen.
Daß ein paar traditionelle Engländer, die das Schießen tatsächlich noch praktizieren, die Erinnerung an Crécy hochhalten und behaupten, daß man die Schießtechnik ordentlich erlernen müsse, um etwas davon zu verstehen, und daß das Treffen und Weitschießen durchaus nicht unwichtig seien, wird, wenn überhaupt wahrgenommen, kopfschüttelnd als degenerierte Versportlichung einer eigentlich tief religiösen Meditationspraxis abgetan. "Die konkurrieren miteinander, messen genau, wie weit sie kommen, bei Turnieren zählen sie Punkte, wie oberflächlich! Einige jagen sogar! Das ist kein wahres englisches Langbogenschießen!"
(Ende Gedankenexperiment)
Mir ist völlig klar, das fiktive Beispiel hinkt an mehreren Stellen, aber so etwa in dieser Situation befinden wir uns mit
kyūdō.