Dieses Mal hat sie eine Schülerin mitgebracht. Caro kommt aus Hamburg, ist 18 und schon eine Weile regelmäßig bei Pettra in Berlin. In Ungarn – im „Tal“ – war sie noch nie und wirkt etwas aufgeregt – kein Wunder bei den vielen Mythen und Gerüchten, die um dieses Tal geistern. Ein wenig Grund hat sie allerdings schon, nervös zu sein: Sie soll im Tal ja nicht nur zuschauen – das kann jeder an diesem ersten Samstag im Monat - , sondern mitmachen und dabei ihre Lehrerin gefälligst nicht blamieren. Als Schülerin der deutschen Schule des berittenen Bogenschießens ist es dummerweise ihre Aufgabe, die Qualität dieser Schule zu zeigen. Und das vor den Augen des Gründers der Schule, „Papa“ Lajos.
So um 2 am Freitag nachmittag waren wir dann im „Shop“, wo wir unsere Geschäfte erledigten und die neuesten Bogenmodelle begutachteten – bloß gut, daß ich nicht viel Geld dabei hatte – da gabs etwa neue Falken (laminierte Hunnenbögen), die am Griffstück und an den Siyahs mit dunklem Edelholz verziert waren (ob politisch korrektes Tropenholz, fragt man einen Ungarn besser nicht). Oder den Luchs, einen Magyarenbogen mit extrakurzen Wurfarmen und langen Siyahs, wie gemacht für einen kleineren oder weiblichen Schützen, der mit einem geringeren Auszug als die „langen Kerls“ trotzdem die volle Kraft auf den Pfeil bringen will.
Vom Shop, der an der Hauptstraße liegt, geht’s über einen Feldweg ins Tal, ungefähr 2-3 Kilometer. Da waren wir dann so gegen halb vier und richteten uns im Gästehaus ein. Das hat Lajos vor 3 oder 4 Jahren für die Leute gebaut, die nicht im Heu oder in der Jurte schlafen wollen oder können. Und nachdem es im Tal schon im Herbst nachts recht frisch werden kann, schlafen wir schon seit Jahren drin. Das Häuschen hat 2 Zimmer, eins für die Männer, eins für die Frauen, in jedem 3 Matratzen, einen kleinen Tisch und einen Kasten. Das Bad teilen sich alle, die fünf Plumpsklos sowieso.
Einige Leute waren schon heftig am arbeiten und wir beeilten uns, zu ihnen zu stoßen. Es ging darum, den alten Viehstall und den „Speisesaal“ zu demontieren, um Platz für das neue Schulgebäude zu machen. Doch davon später.
So gegen 6 – inzwischen hatten Caro und Pettra die Pferde eingefangen und geputzt – gings ans Reiten. Inzwischen war es dunkel geworden und auch ziemlich kalt – vielleicht 3-4 Grad minus und ich konnte mir nicht recht vorstellen, bei diesen Temperaturen vernünftig zu schießen. Vor zwei Jahren wäre das auch noch nicht möglich gewesen: die Wettkampfbahn hat keine Beleuchtung. Aber dann baute Lajos den Katlan, den „Kessel“ eine 130 Meter lange, zu den Seiten hin offene Halle, mit jeder Menge Zielscheiben. Seitdem können wir bei jeder Witterung und zu jeder Tageszeit trainieren.
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Die Aufgabe: 20 Galopps, nur zur Seite schießen. Eine wunderbare Übung, den Rhythmus zu finden. So richtig gelungen ist sie dann, wenn mehrere Scheiben nacheinander getroffen werden und keine dazwischen ausgelassen wurde. Und Caro saß auch auf dem Pferd! Sie schießt zwar erst drei Pfeile, aber das dafür mit schöner Technik, sauberem Release und ruhigem Sitz. Ich brauchte 4 oder 5 Galopps, bis mir warm war, ich die Aufmerksamkeit auf meine Technik richten konnte und mir klar wurde, daß ich noch eine Weile an den 6 Pfeilen arbeiten muß, bevor ich mehr in die Hand nehme.
Wie lange das gedauert hat? Keine Ahnung, Uhren sind im Tal nur interessant, wenns heißt: „10 Minuten Pause“. Nächster Programmpunkt waren die neuen Formübungen ohne Bogen. Dabei geht’s darum, den Schuß aus den verschiedenen Positionen zu lösen, ohne den Kopf zu benutzen: die Trommel gibt das Signal, der Gong zeigt das Ende. Kein Nachdenken, nur reagieren. Vor einem Monat hatten wir das noch am Hufschlag in der Halle gemacht, einmal ganz herum, jeweils zur Seite, nach vorne, nach hinten, aus der Kniebeuge und gnädigerweise nur eine Länge in der „tiefen Reiterposition“ in einer weiten Kniebeuge mit einigen Sekunden des Wartens. Jetzt gab’s die gleichen Übungen, aber nebeneinander gehend und nur eine Hallenlänge, also 40 statt 70 Stück. Dann langsam zum Ausgangspunkt zurück. Dafür aber drei Durchgänge, einmal langsam, dann schnell und wieder langsam. Zwischen den Durchgängen Atemübungen, die ihren Ursprung im Qi Gong und Yoga haben dürften. Wenn ich schnell sage, dann ist das allerdings wirklich schnell: Die ganze Übung dauert eine halbe Stunde, in der aber 600 Schüsse abgegeben werden, der Rhythmus kommt computergesteuert von der CD, inklusive aller Pausen und Atemübungen, absolut gleichmäßig und objektiv. Allen war anschließend angenehm warm.
Nächste Übung: 100 Pfeile aus verschiedenen Distanzen schießen. Pettra und ich machten das nicht mit, weil jetzt die Zeit war, uns mit Lajos zu besprechen. Das kann schon ein paar Stunden dauern, geht aber nur am Freitagabend.
Samstagmorgen, 8 Uhr: Die Pferde sind gefüttert, der Stall ist sauber, 30 bis 40 Schüler und Schülerinnen warten in der Reihe. Das Programm bis 10: den Speisesaal weiter zerlegen und die Teile ordentlich für die spätere Verwendung wegräumen. Das heißt einmal „Ziagl schupfn“ (österr.: Ziegel werfen und schlichten), die Pfosten und Bretter demontieren, von anhaftenden Nägeln befreien, nach Brenn- und Bauholz sortieren und wegräumen. Leichte Arbeit.
Eine halbe Stunde Pause, dann das neue Formtraining. Dann Reittraining, an dem alle Reiter mitmachen sollen. Reiter meint hier die Leute, deren Reitkenntnisse so weit fortgeschritten sind, daß das Material der zweiten Anfängerprüfung halbwegs sitzt. Dieses Training hatte ich sicher schon ein halbes Jahr nicht mehr mitgemacht, sondern mich statt dessen auf die Show vorbereitet, die in der warmen Jahreszeit für die vielen Zuschauer gegeben wird. So war ich höchst angenehm überrascht, wie schön sich Vazul, so heißt das Pferdchen, auf dem ich saß, im Slalom und in den engen Volten unter mir bog, nur mit Gewichtshilfen. Gyula, mein Haflinger, kann das noch lange nicht so gut. Die Übungen, die alle im Trab und natürlich ohne Sattel geritten werden, sind folgende:
Mäander durch die ganze Bahn mit scharfen Wendungen am Hufschlag,
Slalom um sechs in der Mitte aufgelegte Markierungen, halbkreisförmig, nicht eng,
Volten um die Hindernisse, einzeln geritten,
Paarweise nebeneinander reiten, die inneren Hände klatschen,
Einander den Ball zu werfen (Medizinball, 4kg!),
Die „Wurst“, einen etwa ein Meter langen Stoffschlauch, auch nicht federleicht, um den Kopf kreisen lassen,
Den jetzt eigentlich fälligen Einzelgalopp ließen wir aus, die Ecken des Vierecks waren ein wenig sehr vereist und ziemlich rutschig. Den gabs dann im Katlan, in Kombination mit einer lustigen Übung: Auf dem Foto kann man erkennen, daß oben im Dach der Halle weiße Säcke hängen. Die wurden ungefähr bis auf die Höhe des Pferdekopfs heruntergelassen, die Aufgabe war, Slalom um die Säcke zu traben und zurück zu galoppieren. Vorgabe: Jeder, der den Sack berührt, steigt ab und ein anderer kommt dran. Ist niemand abgestiegen!
Nächste und letzte Übung: Die Säcke werden auf Reiterkopfhöhe hochgezogen und die Reiter kriegen die Waffe, mit der sie die Säcke töten sollen: einen Schaufelstiel. Sehr lustig, weil die Säcke durch den vorangegangen Reiter verrückte Bewegungsmuster entwickeln und ich mich mehr als einmal sehr schnell entscheiden mußte: noch schlagen oder schon ducken? Die Säcke sind nämlich recht schwer und hätten mich ein paar Mal fast vom Pferd gefegt.
Der nächste Programmpunkt war eher unspektakulär, aber sehr willkommen: eine Stunde Mittagspause – es war auch schon zwei Uhr.
Um drei hieß es dann wieder zwei Stunden arbeiten, bevor der Höhepunkt des Tages drankam: Bogenschießen vom Pferd. Diesmal freies Training im Katlan. Ich entschied mich für Wettkampf, also Schießen nur auf die Scheibe in der Mitte der Bahn und durfte wieder einmal feststellen, wie dringend nötig ich dieses Training habe – vor allem die Schüsse nach hinten funktionierten so gut wie gar nicht.
Weil das Formtraining am Vormittag wohl nicht so toll funktioniert hatte, kam es jetzt noch mal dran. Pettra, Caro, Pisti und ich machten nicht mit, sondern bereiteten das Mädchenzimmer als temporäre Jurte vor – in der Jurte selbst wären wir wohl erfroren. In diesem Raum sammelten sich so gegen 8 Uhr all diejenigen, die noch Zeit und Lust hatten, um den Tag zu besprechen. Lajos erzählte von dem neuen Schulgebäude, davon, daß bis zum Klubtag im März die Erdarbeiten erledigt und im Mai alles fertig wäre. Die Planskizzen, die er herumreichte, waren eindrucksvoll: der Klassenraum - wie die Jurte nort-süd orientiert -bietet Platz für 30 Leute, in einer höchst organisch anmutenden Weise ganz aus Holz ohne Fenster; das Licht kommt vom verglasten Giebel. Südlich davor eine Tribüne für 200 Leute, halbkreisförmig. Vor dem Klassenraum eine Bühne für Vorträge und Diskussionen. Das Training soll durch die diversen technischen Hilfsmittel wie Videoaufzeichnung stärker individualisiert werden, jeder Schüler seinen auf ihn maßgeschneiderten Trainingsplan erhalten. Wie üblich nickte ich ein paarmal ein, weil einige der Männer ihre Befindlichkeit sehr breit darstellen mußten, natürlich auf ungarisch, von dem ich inzwischen schon fast jedes dritte Wort verstehe, den Zusammenhang natürlich gar nicht. Um 11, als die Leutchen endlich aufbrachen, waren wir alle rechtschaffen müde und verfügten uns umgehend zu Bette.
Der nächste Morgen begrüßte uns um 7 mit klirrender Kälte, so 12-13 Grad minus werdens schon gewesen sein. Nach der Stallarbeit hatten wir Männer - inzwischen waren wir nur mehr zu zweit, Pisti und ich - das gestern produzierte Brennholz mit einer uralten Bandsäge axtgerecht zu teilen, was im kalten Stall nicht die reine Freude ist. Beim bloßen Zureichen und Schlichten wird einem halt nicht warm.
Das war dann erst um 10 angesagt. Lajos selbst führte einen Ausritt an, und wer ihn kennt, weiß, daß seine „Trips“, wie er sie nennt, etwas besonderes sind: die langsamste Gangart ist der Trab - nur einmal, als wir eine vereiste Steigung raufritten, und einmal, als es im tiefen Schnee einen Hang hinunterging, war Schritt angesagt. Nachdem er die Gegend wie seine Westentasche kennt, geht’s mehr oder weniger ständig querfeldein, über Wiesen, Felder, Wälder, Bäche. Auch ein wenig Unterricht wurde geboten: Lajos galoppierte etwa 150 Meter vor und wir durften ihm einzeln zeigen, wie ruhig und ausgeglichen seine Pferdchen galoppieren können, seien da noch so viele Maulwurfshügel, Eisplatten und Schneewächten. Oder: ein Gruppengalopp, aber mit 50 Metern Abstand zwischen den Pferden. Und die Krönung am Schluß: die „Hausgaloppstrecke“ über einige Kilometer, in der Abteilung geritten und dabei die Landschaft genossen. Mére, seit einem Jahr nicht mehr Hengst, aber noch immer voller Power, zeigte gelegentlich Gelüste, zu überholen, ließ sich aber immer überreden, in der Abteilung zu bleiben. Als wir dampfend und schwitzend am Stall ankamen, ließen wir die Gäule einfach laufen - kein Abreiben, kein Deckchen, das brauchen die nicht. Inzwischen war es auch schon angenehm warm - Mittag, Zeit, unsere Zelte abzubrechen. Während wir packten, drehte Lajos ein paar Dutzend Runden mit den Eislaufschuhen auf dem See, er gönnte sich wohl einen Urlaubstag. Ein Bild für Götter: da läuft einer auf dem Eis, während auf den Hügeln hinter dem See die Pferde spielen. Nur Frieden und Ruhe.
Was im Sommer, wenn mehr Leute kommen, nicht möglich gewesen wäre: Caro, die zum ersten Mal hier war, konnte alle Trainings mitmachen. Auch beim Ausritt am Sonntag war sie dabei. Natürlich tat ihr danach der Hintern weh, aber dieser Schmerz wird auch die Erinnerung an ihre Erlebnisse wach halten.
So geht der Klubtag im Tal. Warum ich das erzähle? Vielleicht kriegen einige von denen, die bis hierher durchgehalten haben, eine Vorstellung davon, warum wir von diesen Tagen im Tal als unserer Energietankstelle sprechen, die uns über die Wochen hilft, in denen wir unsere Pferde trainieren, mangels Halle im Keller schießen und in der Kälte im dunklen Viereck arbeiten. Die uns die Kraft gibt, unser weniges Wissen weiterzugeben und unsere Begeisterung auch auf unsere Schüler zu übertragen, die noch nicht dorthin fahren können. Mit ihnen werden wir unser eigenes Tal aufbauen.
jo

