Liebe Leser und Schreiber,
mit Interesse habe ich diesen Thread gelesen und möchte meine Sichtweise dazu beitragen. Vorweg sei gesagt, dass ich weder von Kyudo noch von Physik Ahnung habe. Nur ein bisschen vom westlichen Bogenschießen. Nur daher habe ich mein Halbwissen. Wenn ich also Quatsch schreibe, seid gnädig ...
Meiner Meinung nach dürften die Kyudokas hier richtig und Sateless (ziemlich) falsch liegen. Sateless führt eine vereinfachte Rechnung vor - und räumt auch ein, dass sie vereinfacht ist, dies hier soll also bitte nicht als Meckern, Arroganz o. ä. missverstanden werden! Nur meine ich, dass die Vereinfachung das Ergebnis unbrauchbar macht:
Sateless geht zunächst zutreffend (!) davon aus, dass ein moderner Bogen, der nicht "stakt", pro Einheit Auszugslänge immer ungefähr gleichmäßig an Zuggewicht ZUNIMMT. Diese ZugewichtsZUNAHME darf aber nicht gleichgesetzt werden mit der Kraftübertragung vom Bogen auf den Pfeil im Zustand dieses Auszugs. In der Differentialgeometrie wäre das eine eine Ableitung des anderen: Während das Zuggewicht pro Zentimenter Auszug GLEICHMÄSSIG steigt, steigt die im Bogen gespeicherte Energie wohl eher EXPONENTIELL.
Das kann man sich eigentlich auch ganz gut klar machen, wenn man den Gedankengang etwas überspitzt:
Angenommen, der Bogen wird 80 cm ausgezogen (plus Standhöhe hat der Schütze also 1oo cm Auszug, was Sateless Beispiel entspricht). Löst der Schütze die Sehne, steht ihr auf dem ersten Zentimeter, den sie nach vorn schnellt (von 80 auf 79 cm Auszugslänge), 80/80tel der im Bogen gespeicherten Energie zur Verfügung. Eine Millisekunde später, wenn die Sehne sich von 79 auf 78 cm Auszugslänge bewegt, sind es nur noch 79/80tel an Energie usw. Hat die Sehne jedoch beispielsweise die Hälfte ihres Weges zurückgelegt und schnellt von 40 cm Auszug auf 39 cm Auszug zurück, hat sie nur noch maximal 40/80tel der ursprünglich vorhandenden Energie.
Die "Endauszugs-Zentimeter" übertragen mithin ganz erheblich überproportional Energie auf den Pfeil. 2,5 cm mehr oder weniger an Auszug machen also einen ganz entscheidenden Unterschied, der sicherlich bei 10 % oder mehr, keinesfalls bei den von Sateless angenommenen 2 % Energiedifferenz liegt.
Genauer sieht man das größenordnungsmäßig zutreffende Ergebnis in jedem der allseits bekannten Auszugsdiagramme der Bogenhersteller, wie beispielsweise diesem der Fa. Bearpaw:
http://www.bearpaw-blog.de/bodnik-bows/ ... diagramme/
Dort ist das Zuggewicht (in lb) auf der Hochachse und der Auszug (in Zoll) auf der Längsachse aufgetragen. Die Fläche zwischen der Auszugskurve und der Längsachse ist die im Bogen bei der jeweiligen Auszugslänge gespeicherte Energie (2. Ableitung im Sinne der Differenzialgeometrie? Schule ist schon so lange her ...). Teilt man nun gedanklich die Grafik in eine linke und eine rechte Hälfte (beim hälftigen Auszug, logischerweise), erkennt man, dass die rechte Fläche (vom halben Auszug bis zum Vollauszug) viel größer ist als die linke. Je weiter der Bogen auf seinen Vollauszug zugeht, umso mehr Energie wird im pro Einheit Auszug zugeführt und um so mehr kann er auch an den Pfeil abgeben.
Wenn man jetzt noch ein bisschen grob vereinfacht und Energie dreist mit Geschwindigkeit gleichsetzt (Einstein dreht sich wegen E = mc² im Grab herum), kann man in Bogenschützensprache übersetzten:
Verstelle ich den Klicker meines olympischen Recurve um 2,5 cm nach vorne (KiSi Lee würde einen Herzinfakt kriegen, bei dem bloßen Gedanken), schieße ich auf 30 m (Kyudokas schießen meines Wissens auf 28 m) nicht statt einer 10 eine 9, sondern maximal eine tiefe 6.
Bleibt eigentlich nur noch die Frage, warum wir "westlichen" Schützen es nicht genauso machen wie die Kyudokas. Das liegt vermutlich daran, dass das westliche Schießen mit der (einseitigen?) Betonung des genauen Treffens teilweise andere Ziele verfolgt, als das Kyudo, bei dem (Achtung, das ist jetzt nur "Wiki-Wissen") Durchlagskraft traditionell immer noch eines der Ziele ist:
Die auf das Kriegsschießen des japanischen Mittelalters zurückgehende Methode des Kyudo ist (und nun kann Einstein aufhören, sich im Grab zu drehen ) besonders geeignet, die Durchschlagskraft eines Schusses zu erhöhen, denn sie eignet sich dazu, möglichst schwere Pfeile mit eher leichten Bögen und damit relativ langlebigen Bogensehnen (trotz der Verwendung von Hanf) , möglichst weit und schnell zu schießen (während die Methode, wegen ihrer schwierigen Erlernbarkeit, zu Lasten der Präzesion geht, sonst würden die Japaner bei der Olympiade wohl auch mit Yumis antreten ...). Energie (= Durchschlagskraft) ist eben das Produkt aus Masse (Pfeilgewicht) mal Geschwindigkeit zum Quadrat (E=mc²).
Beim heutigen Scheibenschießen wollen wir westlichen Schützen die Scheibe aber nur soweit penetrieren, dass die Pfeile stecken bleiben. Energie ist uns eigentlich wurscht, wir wollen nur Geschwindigkeit für eine flache Flugbahn. Wir können das also viel einfacher mit leichten Carbonpfeilen erreichen, statt mit der schwierigen Methode der Kyudokas. Dass unsere "Zahnstocher" an der Rüstung eines Samurai vermutlich abgeprallt oder zerbröselt wären, stört uns ja nicht ... Im Mittelalter, nicht nur im japanischen, war das hingegen ganz anders. Deswegen zogen auch die englischen Bogenschützen bis hinters Ohr und benutzten Bögen mit 80 Pfund und mehr Zugkraft (vgl. Pit Backerstaffe, Shooting the English Longbow). Nur ein toter Ritter war eben ein guter Ritter. Die englische Methode, Bögen mit extremer Zugkraft zu verwenden, hatte im Wesentlichen den Nachteil, dass die Bogensehnen ständig rissen. Dem Flagschiff Mary Rose von Henry VIII wurden z. B. laut Pit Bickerstaff (Ausgabe 75 von Bow International) für jeden Bogen jeweils 36 Pfeile und 3 (!!!) Sehnen geliefert (nein, da die Bögen im Kampf Schiff gegen Schiff eingesetzt werden sollten, sollte keiner der Pfeile wiederverwendet werden. Man ging also tatsächlich davon aus, 3 Sehnen auf 36 Schuss zu verbrauchen.) Diese Problem hatten die Samurai sicher nicht ...
Gruß
Martin